EINE NATURGESCHICHTE DER LABORRATTE
Als
Krankheitsüberträger wurde die wilde Wanderratte verabscheut und über
Jahrhunderte hinweg rücksichtslos bekämpft. In der Neuzeit ist die
Laborratte aber der Schlüssel zu vielen medizinischen Fortschritten geworden.
Der ehemalige Feind hat viele Leben gerettet. Generationen der Domestikation
haben ein einfach zu haltendes, zahmes Versuchstier geschaffen. Könnte
dieses Tier aber je wieder wie seine wilden Vettern in der freien Wildbahn überleben?
Wieviel vom wilden Vorfahren steckt noch unter dem weissen Kittel der Laborratte?
FREILASSUNG: ERSTE SCHRITTE IN DIE WILDNIS
Wir
verfolgten das Schicksal von 50 Ratten der Zuchtstämme Wistar und Lister
Hooded, geboren und aufgewachsen im Labor. Freigelassen im grossen Freigehege
würden sie genauso wie ihre wilden Vettern um Unterschlupf, Nahrung und
Geschlechtspartner konkurrieren müssen.
Wie zu erwarten, sind sie sofort neugierig, aber auch vorsichtig. Es ist immerhin das erste Mal, dass sie den Himmel sehen!Es dauert nicht all zu lange, bis sie der Erkundungsdrang übermannt, der ihre wilden Vettern so erfolgreich gemacht hat. Die Männchen stürzen sich als erste in das Ungewisse.
Die Ratten des "Hooded"-Stamms sind erkundungsfreudiger
und wagnisbereiter. Sie nehmen sofort die günstige Gelegenheit wahr, die
weissen Weibchen in den anderen Laborkäfigen zu besuchen.
Sie nehmen sofort die willkommene Gelegenheit wahr, die weissen Weibchen in
den anderen Käfigen zu besuchen. Die Ratten suchen dann nach verfügbaren
Unterschlüpfen, was für potentielle Beutetiere eine vernünftige
Vorsorge darstellt. Dies ist ein gutes Zeichen dafür, dass in den Laborratten
immerhin noch ein gewisser Überlebensinstinkt erhalten geblieben ist. Gleichzeitig
haben sie aber auch einen starken Erkundungsdrang. Und alles ist ja so neu für
sie.
Selbst Klettern ist neu, denn Laborratten werden üblicherweise in zweidimensionalen Laborkäfigen gehalten. Die Tiere untersuchen die Leiter nur zögernd.
Sie brauchen nicht lange, um Wasser zu finden, und nehmen auch sofort davon Gebrauch. Ratten brauchen sehr viel Wasser. Wenn sich die Gelegenheit bietet, unterbrechen sie ihre Mahlzeiten regelmaessig um zu trinken. Einige entwickeln sehr bald individuelle Trinkweisen. Diese Ratte bevorzugt das Wasser von ihren Pfoten oder gar von einem Blatt zu lecken. Vielleicht ist das eine Strategie, um auch beim Trinken aufrecht sitzen und wachsam bleiben zu können.
Schon nach kurzer Zeit werden die Ratten eine weitere neue Erfahrung machen, auf die sie vielleicht noch viel weniger vorbereitet waren: ein Sommergewitter. Die meisten Ratten sind offensichtlich vernünftig genug, während des Gewitters in einem Unterschlupf auszuharren. Dies ist eine grosse Erleichterung.
Nach nur wenigen Stunden in Freiheit haben die
Ratten wieder den charakteristischen hoppelnden Gang der Wildratten angenommen.
Und sie beginnen zu graben... Dies war ihnen als Laborraten vorenthalten, aber
sie haben es nicht verlernt!
Der erste Tag der Ratten in Freiheit nach 200 Generationen Laborzucht war erfolgreich.
Jetzt müssen wir sie alleinlassen, während sie die erste Nacht in
ihrem neuen Zuhause verbringen.
NAHRUNGSWAHL:
LÖSUNG DES ALLESFRESSER-PARADOXONS
Ein
neuer Tag bringt neue Herausforderungen. Sie werden mit Nahrung konfontiert,
der sie nie zuvor begegnet sind. Was für ein Buffet im Vergleich zu den
homogenisierten Futterpellets, mit denen sie aufgewachsen sind.Manches Futter
ist absolut verführerisch. Anderes etwas verwirrend...
Ratten sind Allesfresser, und ihre Bereitschaft, ein breites Angebot von unterschiedlichstem Futter zu probieren, hat zu ihrem Erfolg beigetragen. Neue Nahrung ist der Schlüssel zu neuen Situationen und Lebensräumen. Das führt aber zu einem Dilemma: nicht alles, das wie Nahrung aussieht, ist essbar, und manches ist sogar potentiell tödlich.
Ratten zeigen daher einen typischen Motivationskonflikt: begierig, neues Futter zu testen, aber dennoch vorsichtig. Das ist das "Paradoxon des Allesfressers", ein Dilemma, das Ratten mit Menschen teilen. Wilde Ratten haben verschiedene Lösungen zum Allesfresser-Paradoxon entwickelt - sind Laborratten aber noch fähig, diese anzuwenden?
In der Gemeinschaft liegt die Lösung: Mitglieder einer Kolonie können voneinander lernen, indem sie sich gegenseitig beobachten. Diese Ratte ist bereits auf den Geschmack der Brombeeren gekommen. Bald werden ihr Atem und Fell mit diesem neuen Geruch behaftet sein. Andere Ratten werden darauf aufmerksam und folgen dem Beispiel des Pioniers. Diese weisse Ratte lernt schnell, dass Brombeeren einen Versuch wert sind, muss aber noch herausfinden, dass die reifen doch am besten schmecken.
Wie aber kann sie herausfinden, ob ein spezifisches Futter schlecht für sie ist? Wie wir Menschen haben Ratten die Fähigkeit entwickelt, eine Verbindung zwischen dem Geruch und dem Geschmack der aufgenommenen Nahrung, und dem eigenen körperlichem Befinden nach der Nahrungsaufnahme herzustellen - manchmal auch noch Stunden später. Diese zeitverzögerte Lernfähigkeit war eine Überraschung, als sie erstmals entdeckt wurde: wie soll man wissen, was einem geschadet hat, wenn Schmerz oder Übelkeit erst viele Stunden später auftreten? Untersuchungen haben aber gezeigt, dass sich Rattenhirne durch natürliche Selektion so entwickelt haben, dass diese wichtigen Verknüpfungen bei der Nahrungsaufnahme gemacht werden können. Dies ist ein wichtiges Glied in der Rüstung von Allesfressern, eine Fähigkeit, die übrigens auch beim Menschen gefunden wurde.
In einem sozialen Gefüge zu leben ist zusätzlich von
Vorteil, weil Ratten von den Erfahrungen der Gruppenmitglieder lernen können,
ein Phänomen, das "Effekt des vergifteten Partners" genannt wird.
Wenn eine Ratte nach einer bestimmten Nahrung riecht und ihr Verhalten auf Unwohlsein
hindeutet, werden ihre Sozialpartner dieses Futter in Zukunft meiden.
KATZENALARM:
ANGEBORENE ABNEIGUNG GEGEN KATZENGERUCH
Fressen
ist nicht das einzige Problem. Zu verhindern, selbst gefressen zu werden, ist
ein anderes, und ebenso wichtig für kleine Tiere. Der Besuch eines ungebetenen
Gastes lässt die ganze Kolonie in ihren Bau flüchten.
Die Ratten brauchen die Katze
nicht einmal zu sehen. Sie haben eine angeborene Abneigung gegen Katzengeruch.
Es ist sinnvoll, Orten fernzubleiben, die von diesen ausgezeichneten Jägern
heimgesucht werden. Trotz Generationen, die nie eine Katze zu Gesicht bekommen
haben, zeigen diese Ratten eine tief verankerte Abneigung. Nicht alle Ratten
waren Zeugen des Katzenbesuches, doch die ganze Kolonie stellte die Futtersuche
für den Rest des Tages ein, und bevorzugte es, auf ihre Futtervorräte
zurückzugreifen, bis die Gefahr sicher vorüber war.
NACHTSCHWÄRMER:
SO LANGSAM FüHLEN SIE SICH WOHL
Eine
weitere Möglichkeit, dem Räuberdruck zu entfliehen, ist, sich nur
nachts herauszuwagen. Ratten sind natürlicherweise nachtaktiv, und als
die Wochen vergehen, wird die Kolonie auch zunehmend erst nach Sonnenuntergang
aktiv.Das war aber nicht die einzige Veränderung, die wir bei unseren Ratten
beobachten konnten...
Wo einst zögernd und unsicher, sind sie zunehmend aktiver geworden, und wo sie einst quer über offene Flächen rannten, prüfen sie nun erst sorgfältig, ob keine Gefahr droht bevor sie schnell von einem sicheren Unterschlupf zum nächsten huschen.
Sie haben eine Reihe bequemer und komplexer Bausysteme und Korridore geschaffen. Der bevorzugte Wohnort sind die Strohballen, in der Rattenwelt das Pendant zu Luxus-Appartments.
Einige Weibchen versehen diese
neuen Wohnungen mit gehortetem Futter, obwohl diese Laborratten nie an Futtermangel
zu leiden hatten! Aber hier diktieren ihnen ihre wilden Instinkte, reichlich
Vorräte anzulegen, denn es könnte ja bald viel mehr Mäuler zu
stopfen geben...
KOMMUNIKATION IM ULTRASCHALLBEREICH
Geruchs-
und Tastsinn sind nicht die einzigen Sinne, die von Ratten eingesetzt werden.
Die ganze Kolonie schallt von Geräuschen wider, die wir nicht hören
können. Ratten kommunizieren im Ultraschallbereich, über den 20KHz,
die die Grenze unseres Hörbereichs darstellen. Die Funktion der meisten
dieser Lautäusserungen ist noch unbekannt, viele werden jedoch im Zusammenhang
mit dem Sozialverhalten ausgestossen. Ratten kennen drei Typen von Rufen auf
mindestens zwei verschiedenen Ultraschallfrequenzen.
Dieser lange Ruf auf 22kHz, dessen Frequenz heruntergesetzt wurde, um ihn für uns hörbar zu machen, wird von unterlegenen Ratten ausgestossen, und könnte Angst oder sogar Schmerz ausdrücken. In anderen Situationen wird der gleiche Ruf aber als Warnsignal oder Alarmruf verwendet. Auch Weibchen stossen ihn unmittelbar vor der Paarung aus, die Männchen nach der Ejakulation.
Zwei andere Ruftypen umfassen sogar noch höhere Ultraschallfrequenzen von 50 bis 100kHz.
Diesen Ruf hört man meist im Rahmen der Fortpflanzung, wenn Männchen die Weibchen verfolgen. In einigen Fällen scheint er die Weibchen empfänglicher für das Werben der Männchen zu machen.Dieser weniger komplexe Ruf wird bei Auseinandersetzungen ausgestossen. Tatsächlich gibt es Anzeichen von Konflikten bei unseren Ratten.
RANGORDNUNG:
DIE KUNST DES ZUSAMMENLEBENS
Obwohl
Laborratten auf Zahmheit gezüchtet wurden, gibt es nun vermehrt Anzeichen
dafür, dass sich eine Hackordnung entwickelt. Bei Auseinandersetzungen
gewinnt meist die grössere Ratte. Danach wird der Unterlegene dem Ranghöheren
zukünftig aus dem Wege gehen. Eine solche Rangordnung kann erstaunlich
stabil sein, so dass Ratten sogar dominant bleiben, wenn ihnen die einst Unterlegenen
längst über den Kopf gewachsen sind. Möglicherweise akzeptiert
der Unterlegene seine Position in der Rangordung, weil für ihn der Unterlegenheitsstatus
mehr Vorteile bringt als ein offener Konflikt.Eine Eskalation der Auseinandersetzung
ist bei Ratten selten.
ORIENTIERUNG:
"RATTEN-RENNBAHNEN", EINE EFFIZIENTE FORTBEWEGUNGSMETHODE
Konfliktlösung
ist Bestandteil des Soziallebens, und unsere einst unerfahrenen Ratten haben
eine komplexe und effiziente Kolonie aufgebaut, die blüht und gedeiht.
Sie haben auch ihren Lebensraum umgestaltet. Wichtige Orte ihrer Umwelt wurden durch "Schnellstrassen" leichter zugänglich gemacht. Wie Blutgefässe erlauben diese von den Ratten erstellten Laufwege einen einfachen, ungehinderten Zugang zu wichtigen Orten wie Futterstellen, Bausystemen oder Unterschlüpfen. Sie sind wie Autobahnen, haben genau die richtige Breite für erwachsene Tiere, und die Ratten rasen ihnen mit grosser Geschwindigkeit entlang.Einer Ratte können diese Laufwege so vertraut werden, dass sie nicht einmal hinzusehen braucht. Das ist aber ein Fehler, wenn plötzlich Hindernisse auftauchen!
GERUCH UND FORTPFLANZUNG
Der Geruch ist ebenfalls ein wichtiger Bestandteil der
Rattenwelt. Ratten identifizieren Individuen, deren Geschlecht, Dominanzstatus
und Zustand des weiblichen Geschlechtszyklus' aufgrund des Geruchs. Unterdessen
haben die Ratten der Kolonie wohl schon so etwas wie einen "Gruppengeruch".
Der Besuch einer wildlebenden Ratte verursacht grosse Aufregung. Es ist
eine Mischung aus Aggression und Faszination. Diese Ratte sieht nicht nur anders
aus, ihr Geruch entspricht auch nicht dem "Gruppengeruch".
Die Wildratte wird ebenfalls von den Gerüchen der Kolonie angezogen. Kein anderer Geruch ruft jedoch eine solche Aufregung bei Männchen hervor wie der eines empfängnisbereiten Weibchens. Wenn sie nicht trächtig sind, kommen Weibchen etwa alle 5 Tage in Hitze. Der Östrus dauert einige Stunden, während derer die Männchen äusserst aufmerksam auf jede Veränderung sind. In dünn besiedelten Gebieten nehmen Männchen Reisen von mehreren Kilometern Länge auf sich, um Weibchen zu finden. In dicht besiedelten Gebieten wie zum Beispiel auf Bauernhöfen oder hier, wo Futter im Überfluss vorhanden ist, sind auch Weibchen einfacher zu finden.Die Männchen konkurrieren untereinander. Das Rennen um das empfängnisbereite Weibchen geht oft schon vor Sonnenuntergang los.
Das Weibchen macht es den Männchen nicht einfach. Während es sich durch die Kolonie bewegt, fordert es die Männchen auf, sich am Rennen zu beteiligen und fördert so noch die Konkurrenz. Bald folgt ihr ein ganzer Rattenschwanz von Männchen. Erst wenn sie innehält, um in der typischen Paarungsstellung ("Lordose") zu verharren, kann sich das erste Männchen mit ihr paaren, während die anderen auf ihre Gelegenheit warten. Beim genauen Hinsehen sieht man, wie ihre Ohren vibrieren - dies gilt als sehr sexy bei Ratten.
Nach der Paarung leckt das Männchen seine Genitalregion,
während das Weibchen gefolgt vom Rest der Horde weiterrennt.
"GRUPPENSEX":
DAS SPIEL DER GESCHLECHTER
Auch
wenn schlussendlich das Weibchen bestimmt, wann sie sich paaren will, gibt es
eine feine Grenze zwischen Aufforderung und Nötigung. Die Männchen
stören sich bei der Paarung kaum und bekämpfen sich auch nicht gegenseitig.
Reduziertes Kampfverhalten mag eine Eigenschaft sein, die durch generationenlange
Zucht im Labor entstanden ist, wird aber auch bei Wildratten beobachtet. Weil
das Weibchen dauernd in Bewegung ist, würden Kampfhähne den Anschluss
verlieren, und damit auch ihre Chance zur Paarung.
Das könnte auch der Grund sein, warum Unterlegene in der Kolonie ihren sozialen Rang anstandslos akzeptieren. Selbst sie können bei diesem rangunabhängigen Gerangel eine Chance zur Fortpflanzung bekommen.
Warum
aber gibt es diese Fortpflanzungsmuster überhaupt? Es ist eindeutig, warum
Männchen davon profitieren, sich mit mehreren Weibchen zu paaren, erhöht
dies doch die Anzahl ihrer Nachkommen. Aber welchen Vorteil haben Weibchen,
die ja nur eine begrenzte Anzahl Junge aufziehen können? Von einer Vergewaltigung
kann nicht gesprochen werden, da sich Weibchen auch mit mehreren Männchen
verpaaren, wenn sie die Wahl haben. Während dies noch immer ein Rätsel
bleibt, gibt es doch verschiedene Erklärungsversuche. Zum Beispiel könnten
die Weibchen damit sicherstellen, dass ihre Eizellen befruchtet werden, auch
wenn eines der Männchen unfruchtbar ist. Es könnte aber auch eine
Strategie sein, die Konkurrenz zwischen Männchen zu fördern, um zu
gewährleisten, dass nur die besten Männchen das Rennen gewinnen.
GEBURT UND TOD
Drei
Wochen später werden 10 Junge geboren. Die Anzahl der Jungtiere ist bei
Laborratten allgemein grösser als bei Wildratten. Wie bei diesen können
die Jungen eines Wurfes verschiedene Väter haben.
Rattenweibchen sind aufmerksame Mütter, während sich die Väter praktisch überhaupt nicht um den Nachwuchs kümmern. Die Jungen werden blind und haarlos geboren und sind über Wochen hinweg von ihrer Mutter abhängig. Sie sind Räubern ausgeliefert, was sogar andere Mitglieder der Kolonie mit einschliesst.
Kindstötung, obwohl nicht häufig, kommt bei verschiedenen Säugetierarten vor. Vielfach ist Infantizid der Versuch, Konkurrenz zu begrenzen. Bei manchen Nagetieren töten Weibchen die Jungen anderer Weibchen, aber die wirkliche Gefahr geht von den Männchen aus, die bei einer kurzen Abwesenheit der Mutter einige oder gar alle Junge töten können.
Dieses Männchen hat wahrscheinlich diesen Wurf nicht gezeugt, denn Männchen, die eine Chance zur Paarung mit dem Weibchen hatten, greifen dessen Junge seltener an. So grausam dies auch erscheinen mag, macht es doch biologisch Sinn: die getöteten Jungen werden nie mit dem Kindstöter oder dessen Nachwuchs konkurrieren können. Vielleicht akzeptieren, ja ermutigen die Weibchen die Paarung mit mehreren Männchen gerade wegen deren erpresserischen Methoden. Im Paarungsrausch können Männchen nie sicher sein, ob nicht wenigstens ein paar der Jungen ihre eigenen sind. Diese Taktik scheint aufzugehen, denn dies war der einzige Fall von Kindstötung, den wir beim Filmen beobachten konnten.
AUFWACHSEN:
ENTWÖHNUNG UND DAS LERNEN VON ANDEREN
Drei
Wochen später zeigen die ersten Neuzugänge im Gehege, wie gut sich
die Kolonie entwickelt. Das Erscheinungsbild der Jungen zeugt von den Kreuzungen
zwischen den Zuchtstämmen.
114
- 115 Innerhalb von 3 Wochen können sich die Jungen selbst ernähren.
Zuerst müssen sie jedoch lernen, was geniessbar ist. Bis zu einem gewissen
Grad haben sie davon schon eine Vostellung... Sie haben bereits vom Geschmack
der Muttermilch gelernt, was an Nahrungsmitteln zu erwarten ist, ebenso wie
von den Gerüchen, die von anderen Individuen der Kolonie ausgehen. Die
Bausysteme dienen nun als "Informationszentren", da die Ratten eine
breite Palette von Düften heimtragen. Die eigene Mutter nachzuahmen ist
auch keine schlechte Strategie.
AUSGEWOGENE
ERNäHRUNG: UMGEHEN MIT DER VIELFALT VON NÄHRSTOFFEN
Unterdessen
haben die Ratten gelernt, Futterquellen auch an entfernteren Orten zu nutzen,
und klettern geschickt auf dünnen Zweigen - zumindest meistens.
Die
Nahrung der Ratten ist auch viel abwechslungsreicher geworden als die einheitlichen
Futterpellets, die ihre Nahrung im Labor ausmachten. Ein Apfel, eine Schnecke,
ein heruntergefallenes Ei, sogar ein toter Vogel, alles wurde von der Kolonie
verzehrt. Diese Vielfältigkeit stellt aber auch ein Problem dar, denn diese
Nahrungstypen unterscheiden sich stark in ihrem Nährstoffgehalt.
Woher
wissen die Ratten, wie sie ein ausgewogenes Menü zusammenstellen müssen?Sie
werden dabei von einer anderen Fähigkeit unterstützt, die bereits
bei ihren allesfressenden wilden Vorfahren entwickelt war. Ratten lernen problemlos,
dass manche Nahrung besser ist als andere. Sie besitzen wie wir Menschen zudem
einen "kompensatorischen" Appetit, der ihnen hilft spezifische Defizite
von Proteinen und Salz auszugleichen.
NEOPHOBIE:
DIE ANGST VOR DEM UNBEKANNTEN
Die
Kolonie unterscheidet sich jedoch in einem Aspekt sehr stark von wilden Ratten.
Trotz ihrer erhöhten Vorsicht begegnen sie neuen, unbekannten Objekten
mit weniger Furcht als ihre wilden Verwandten. Es wird vermutet, dass diese
Angst vor dem Unbekannten, die sogenannte "Neophobie", bei Wildratten
ein Zeichen einer gesunden Realitätsnähe ist. Laborratten sind weniger
misstrauisch geworden... Eine Wildratte könnte man nicht so einfach fangen.
HÄUSLICHE
GEMÜTLICHKEIT: VOLLSTÄNDIG ANGEPASST
Sechs
Monate sind vergangen. Die Kolonie gedeiht und das Bausystem ist erweitert worden.
Gärungsprozesse im Stroh, ausgelöst durch den Rattenurin, sorgt für
wohlige Wärme. Wie die Kolonie jetzt gemütlich in ihrer zentralbeheizten
Unterkunft die herannahenden kalten Winternächte abwartet, wird klar, dass
unsere Laborratten, so naiv und zögerlich sie bei ihrer Freilassung waren,
den Weg zu einer strukturierten und komplexen Gesellschaft gefunden haben. Sie
brauchten nicht lange dazu. Sobald sie die Gelegenheit hatten, bewältigten
sie viele der aufgetretenen Herausforderungen erfolgreich, ähnlich wie
ihre wilden Vettern.
Viele der ursprünglichen Instinkte sind noch immer vorhanden.
Wir mögen die Ratte aus der Wildniss geholt haben, aber
wir haben das Wildtier nicht aus der Ratte entfernt.
ENDE